Geschäfts- Bericht des Stadtverordnetenvorstehers Justizrat Voigt
über das Amtsjahr 1920. Im Berichtsjahr verstarben die früheren
Stadtverordneten und späteren Stadträte Hommel und Menzel. Das
Kollegium wird ihr Andenken in Ehren halten. Aus dem Kollegium
sind Hommel, Schulze, Miehle und Reißmann infolge ihrer Wahl zum
Stadtrat und Röseberg infolge schwerer Krankheit ausgeschieden
und an ihrer Stelle Kaufmann Max Näumann, Schlosser Alfred
Gensel, Kassenbote Heinrich Opitz, Rechtsanwalt Dr. Steinborn und
Wagenrücker Pohl neu eingetreten. Die Arbeiterin Marie Schulze ,
die statt Gensels einzurücken gehabt hätte, hatte aus
Gesundheitsrücksichten abgelehnt. Die Stadtverordneten gaben sich
eine neue Geschäftsordnung und beschlossen ein Ortsgesetz, das
dem Stadtrat und ihnen eine Aufwandsentschädigung von 500 oder
300 Mark gewährt, sowie ein neues Ortsgesetz über die künftigen
Stadtverordnetenwahlen. Die nächsten finden am 9. Januar 1921
statt. In 14 Sitzungen der Stadtverordneten wurden 41 Gegenstände
der Tagesordnungen zur Kenntnis genommen und über 266
Vorlagen und Anträge Beschluß gefaßt. In 5 gemeinschaftlichen
Sitzungen mit dem Stadtrat wurde über 22 Gegenstände
beschlossen. Erich Wilhelm Neißner, den der Rat am 15. März 1920
als Stadtamtmann angestellt hatte, wurde am 12. August 1920 von
den Stadtverordneten als besoldeter Stadtrat gewählt. Die
Aufsichtsbehörde hat ihn als solchen und als Stellvertreter des
Bürgermeisters bestätigt .Das Berichtsjahr stand auch in Kamenz
unter dem Zeichen der Nachkriegsnot mit seiner fortschreitenden
Geldentwertung und Teuerung. Ein klares Bild über die Finanzlage
der Stadt hat der Rat den Stadtverordneten bisher nicht geboten. Nur
soviel steht fest, daß der Geldbedarf der Stadt in erheblichem
Umfange durch die laufenden Einnahmen nicht gedeckt werden
kann. Die Stadtverordneten haben deshalb in der vorletzten Sitzung
der Aufnahme einer Anleihe von 3 Millionen Mark zugestimmt. Ein
erheblicher Teil davon wird zum Ankaufe des Rittergutes
Straßgräbchen gebraucht werden, dessen Ankauf zum Preise von
1150000 Mark in der letzten gemeinschaftlichen Sitzung vom
Stadtrat einstimmig und von den Stadtverordneten mit 13 gegen 6
Stimmen beschlossen wurde. Auch die Minderheit war keine
grundsätzliche Gegnerin des Ankaufs, besorgte aber, daß die zum
Ankaufe in Papiermark eingegangenen Schulden dereinst in
Goldmark zurückgezahlt werden müßten. Möge der hoffnungsfrohe
Ankauf der Stadt zum Segen gereichen. Der im vorigen Jahre von
den Stadtverordneten mit beschlossene Ankauf der Rittergüter
Koitzsch und Reichenau hat die von der damaligen Minderheit
gehegten Befürchtungen nicht gerechtfertigt. Die erzielten hohen
Preise für die umfänglichen Holzverkäufe lassen vielmehr über eine
angemessene Verzinsung und ansehnliche Einstellung in die
laufenden Haushaltseinnahmen eine außergewöhnlich hohe
Abschreibung auf den Kaufpreis zu. Dagegen verkauft wurde von der
Stadt Waldgelände im Wersk und in Langesholz für 372470 Mk. 86
Pfg. Das von der Stadt angekaufte Hotel zum goldnen Hirsch wurde
mit Zustimmung der Stadtverordneten gründlich und künstlerisch
erneuert und an Kurt Zestermann aus Dresden auf 12 Jahre
verpachtet, in der sicheren Erwartung, daß der goldne Hirsch, der
jahrhundertelang die Führung unter der heimischen Gast- und
Schankwirtschaft besessen hat, diesem in Kamenz besonders hoch
entwickelten Gewerbe wieder würdig zur Seite trete und zu seinem
hohen Ansehen von neuem wieder beitrage .Die Rote Mühle in
Lückersdorf wurde unter abgeänderten Bestimmungen an den
bisherigen Pächter Christoph weiter verpachtet .Das Wobsersche
Gut in Zschornau wurde an den Landwirt Birkigt aus Klipphausen neu
verpachtet. Das letztere wurde durch eine Drainage mit einem
Aufwand von 4500 Mk., der auf eine vom Pächter zu zahlende
Landeskulturrente genommen wird, verbessert. Der
Wiederverpachtung der Hutbergwirtschaft an den bisherigen Pächter
Hensel wurde zugestimmt. Die städtischen Obstanlagen wurden im
Berichtjahre entgegen den bisherigen Verpachtungen von der Stadt
selbst abgeerntet. Das Obst wurde der städtischen Bevölkerung zu
billigen Preisen zugeführt. Der Forststeinbruch wurde mit einer
Krananlage versehen, erhielt elektrische Leitung und einen neuen
Zufahrtsweg, der im wesentlichen aus produktiver
Erwerbslosenfürsorge gebaut wurde und etwa 120000 Mark kosten
wird. Die Kassen des Elektrizitätswerkes und der Gasanstalt, die
dieses Jahr auf ihr 50jähriges Bestehen zurückblicken konnte,
wurden zu einer einheitlichen Kasse verschmolzen. Der
Vergrößerung des eigenen Fuhrbetriebes durch Ankauf weiterer zwei
Pferde, die 37000 Mark gekostet haben, wurde von den
Stadtverordneten zugestimmt. Die Linderung der Wohnungsnot
durch die Beschaffung von Behelfs- und Notwohnungen erforderte
auch im Berichtsjahr wieder erhebliche Mittel. Rund 35000 Mark
wurden bewilligt zur weitern Anlegung von Schrebergärten und ihrer
Versorgung mit Wasser. Die Arbeitslosigkeit in unserer Stadt ist im
allgemeinen gering gewesen, sodaß die städtischen Aufwendungen
für Arbeitslosenunterstützung, trotzdem sie das städtische Budget
nicht unempfindlich belasten, im Verhältnis zu dem anderer Städte
als geringfügig anzusprechen sind. Die Not der Mittel- und
Kleinrentner und ihr Anspruch auf städtische Unterstützung wurde
von den Stadtverordneten im Gegensatz zu der anfänglich
ablehnenden Haltung des Stadtrates anerkannt. Diese ist nach den
Gutachten eines eingesetzten Unterausschusses auch anderen
Personen zu gewähren. Am stärksten in Mitleidenschaft werden die
städtischen Finanzen durch die Neuordnung des Besoldungswesens
gezogen, die im Einklang mit den staatlichen
Besoldungsgrundsätzen vorzunehmen ist. Ueber wesentliche Punkte
der neuen Besoldungsordnung vermochten sich Rat und
Stadtverordnete auch im Vereinigungsverfahren trotz mehrfacher
gemeinschaftlicher Sitzungen nicht zu einigen, sodaß die
Kreishauptmannschaft angerufen werden muß. Die Beamten und
Lehrer erhalten inzwischen ihr Gehalt nach den neuen Sätzen
insoweit, als keine Meinungsverschiedenheit zwischen beiden
städtischen Kollegien besteht. Zu einer umfassenden Neuordnung
des gesamten städtischen Finanz- und Steuerwesens ist es bisher
nicht gekommen. Erhöht wurde die Eintrittskarten- und
Lustbarkeitssteuer sowie die Schankgewerbesteuer. Ferner wurde
die Erhebung eines 1-prozentigen Zuschlags zur
Grunderwerbssteuer eingeführt. Dagegen wurde eine
Gemeindeeinkommensteuer auf das von der
Reichseinkommensteuer freigelassene Mindesteinkommen in der
letzten gemeinschaftlichen Sitzung vom Stadtrat mit allen gegen eine
Stimme und von den Stadtverordneten mit 16 gegen 4 Stimmen
abgelehnt. Die Mehrheit ließ sich dabei von der Erwägung leiten, daß
die niederen Einkommen eine Belastung durch die
Gemeindeeinkommensteuer nicht vertrügen, während die Minderheit
in Anerkennung dieses Grundsatzes es bedauerlich fand, daß auch
die hohen Einkommen von der Steuer verschont blieben, und dem
ersteren Gesichtspunk dadurch gerecht zu werden suchte, daß bei
den niederen Einkommen weitherzig die Steuer erlassen werden
sollte. Die schwierige Finanzlage zwang die Stadtverordneten, einer
wiederholten Erhöhung des Gas- und Elektrizitätspreises und einer
100-prozentigen Steigerung des Wasserzinses zuzustimmen. Für die
Förderung von Handel und Gewerbe wurden 300 Mark für die
Lehrlingsausstellung bewilligt und der Jahreszuschuß für die
Handelsschule auf 2000 Mark erhöht. Nach dem staatlichen Gesetz
über die Wohlfahrtspflege wurde ein Wohlfahrtspflegeamt geschaffen
und für dieses gemeinschaftlich mit der Stadt Pulsnitz eine
Bezirkspflegerin angestellt. Tuberkulose-, Krüppel-, Säuglings- und
Kleinkinderfürsorge und allgemeine Wohlfahrtspflege sind die
Hauptaufgaben des Wohlfahrtspflegeamtes. Anfang Juni haben unter
dankenswerter Mitarbeit ehrenamtlicher Helferinnen die
Mütterberatungsstunden begonnen, deren Notwendigkeit und
Zweckmäßigkeit durch ihren zahlreichen Zuspruch dargetan ist. Die
Kosten der Hygieneausstellung für Säuglings- und Kleinkinderpflege
wurden auf die Stadtkasse übernommen. Ein Teil der Topfhallen
wurde mit einem Kostenaufwand von 2500 Mark in ein Sanitätsdepot
umgewandelt. Das Sanitätsdepot erhielt auf Kosten der Stadt einen
Fernsprechanschluß für die Sanitätskolonne. Die erheblichen
Erträgnisse der Tanzsteuer wurden zu Wohlfahrts- und
Armenfürsorgezwecken bestimmt. Der städtische Beitrag für das
Barmherzigkeitsstift wurde bedeutend und zwar auf jährlich 10000
Mark erhöht. Je 1000 Mark wurden für die notleidenden Erzgebirger,
für die Herberge zur Heimat und zum Heimatfahrtsfest bewilligt. Trotz
der schweren finanziellen Sorgen der Gegenwart glaubten die
Stadtverordneten Wissenschaft und Kunst fördern zu müssen. Sie
warfen aus 1000 Mark für die künstlerische Erneuerung der alten
Bürgermeisterbilder, 8000 Mark Jahresbeitrag für die Stadtkapelle,
2000 Mark erhöhten Beitrag für die Stadtbibliothek, 2000 Mk. für die
Kunstausstellung und 500 Mark Garantiesumme zur Feier des 150.
Geburtstags Beethovens. Das Stadttheater wurde mit finanziellen
Opfern für die Stadt an Dr. Schreiber zu Vorstellungen überlassen
.Um unbemittelten, aber befähigten jungen Leuten die Wohltat einer
besseren Bildung teilhaftig werden zu lassen, wurden 6300 Mark
Realschulgeldererlasse bewilligt. Zur Verschönerung der Stadt
wurden für gärtnerische Anlagen zwischen der Mönchsmauer und
der Wendischen Kirche 3500 Mark bereitgestellt. Die Vermehrung
der städtischen Geschäfte und die Vergrößerung der städtischen
Forsten erforderte die Neugründung mehrer Expedientenstellen und
einer Forstgehilfenstelle. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit
wurden 2 Schutzmannschaften neu begründet. Die seit dem
Heldentode des um unser Turnwesen hochverdienten Oberlehrers
Butter offen gebliebene Turnlehrerstelle der Realschule wurde neu
besetzt. Die Stadtverordneten genehmigten den Beitritt der Stadt
zum Städtischen Arbeitgeberverband, zum Landesverband
Sächsischer Waldbesitzer, zum Verein für Kommunalwirtschaft und
Kommunalpolitik, zum Gemeindekreisprüfungsverband der Lausitz
und zum Sächsischen Kunstausstellungsverband. Der Bauinspektor
Vrabant und Wasservogt Wendt wurden auf ihren Antrag mit der
gesetzlichen Pension und unter Anerkennung der der Stadt
geleisteten Dienste aus den städtischen Diensten entlassen.
Zur weiteren Anerkennung der der Stadt Kamenz
geleisteten hervorragenden Verdienste des
Herrn Ehrenbürgers Stadtrat a. D. Oskar Müller
wurde eine Straße als Oskar-Müller-Straße benannt.
Auf eine Anregung der Stadtverordneten wurde ein Ortsgesetz über
die Errichtung eines Gewerbegerichts erlassen, wobei aus der Mitte
des Kollegiums anerkannt wurde, daß die Rechtsprechung des
Amtsgericht, dem bisher die nunmehr dem Gewerbegericht
zugewiesenen Rechtsangelegenheiten unterstanden hatten, den
Interessen der Arbeiterkreise vollauf gerecht geworden war. Mit Dank
gegen die Stifter haben die Stadtverordneten eine Stiftung des
Jugendvereins Eichenkranz und des verstorbenen Fräulein Sidonie
Hensel genehmigt. Mit Erfolg hat sich das Stadtverordnetenkollegium
dafür eingesetzt, daß 1920 seit Ausbruch des Krieges erstmalig
wieder das jahrhundertalte Forstfest gefeiert werden konnte. Das
Kollegium bewilligte dazu namhafte Mittel. Die Beziehungen des
Stadtverordnetenkollegiums zum Rate waren dauernd gut und von
gegenseitigem Vertrauen getragen. Voigt.
Quellenangabe: KTB (1921-01-01) Nr. 1. S. 2 / 3
Sachbegriffe: Stadtverordnetenversammlung: Geschäftsbericht